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Wann besiegen wir den Krebs?

XTRA-ARTIKEL AUSGABE 2/2022

Die Krebsmedizin wird auch dank individueller Therapien immer besser – allerdings kommt dieser Fortschritt zu selten bei den Betroffenen an. Welche konkreten Schritte wir dagegen unternehmen sollten, erkunden vier Fachleute im Gespräch

Die Gesprächspartner

Prof. Dr. med. Klaus Pantel

Prof. Dr. med. Klaus Pantel ist Direktor des Instituts für Tumorbiologie am Universitätsklinikum Eppendorf (UKE) in Hamburg und Mitglied des Vorstands des Universitären Krebszentrums (UCCH) am UKE

Dr. rer. nat. Barbara Behrens

Dr. rer. nat. Barbara Behrens ist Manager Medical Science & Product Management Oncology bei Sysmex Deutschland

Prof. Dr. med. Christoffer Gebhardt

Prof. Dr. med. Christoffer Gebhardt ist stellvertretender Direktor der Klinik für Dermatologie am Universitätsklinikum Eppendorf in Hamburg und Leiter des Universitären Hauttumorzentrums, der Experimentellen Dermatologie und Facharzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten und medikamentöse Tumortherapie

Dr. med. Bhuwnesh Agrawal

Dr. med. Bhuwnesh Agrawal ist Geschäftsführer von Sysmex Inostics – Entwicklung und Herstellung von Liquid-Biopsy-Diagnostik und Durchführung von Auftragsdiagnostik im Bereich Liquid Biopsy für klinische Studien

Prof. Dr. med. Klaus Pantel und Prof. Dr. med. Christoffer Gebhardt leiten gemeinsam das in diesem Jahr gegründete Fleur Hiege-Centrum für Hautkrebsforschung am UKE, das die Überführung der Liquid-Biopsy-Technologien in die Versorgungsroutine von Hautkrebspatientinnen und -patienten zum Ziel hat.

Dr. Barbara Behrens In Presse und Medien erscheinen immer wieder Berichte über Fortschritte in der Krebsmedizin und personalisierte Behandlungsmethoden. Im medizinischen Alltag spüren davon aber nur wenige Betroffene tatsächlich etwas. Herr Professor Pantel, wie beurteilen Sie den aktuellen Stand der Krebsmedizin?

Prof. Klaus Pantel Es hat sich in den vergangenen Jahren einiges getan. Ein besonders interessantes Modell ist das deutsche Lungenkarzinom-Netzwerk, das sich zum Ziel gesetzt hat, bei allen Patienten eine breit angelegte molekulare Tumoranalyse durchzuführen. Zur Finanzierung wurden mehrere deutsche Krankenkassen mit ins Boot genommen, was dazu geführt hat, dass aktuell bei vielen Lungenkarzinom-Patienten in Deutschland die entsprechenden genomischen Analysen gemacht werden. Das ist beim Lungenkarzinom auch besonders wichtig, weil bei dieser Krebserkrankung in der Regel nur sehr kleine Subgruppen von den personalisierten Therapien profitieren, es aber viele solcher Subgruppen gibt. So ein Modell kann neue Technologien in die Routine führen, neben dem ansonsten doch sehr steinigen Weg über den EBM-Katalog. Insgesamt glaube ich aber, dass zu wenige Innovationen wirklich beim Patienten ankommen, von 10.000 möglichen Biomarkern, die pro Jahr veröffentlicht werden, sind das wohl keine zehn, die den Weg in die Routine schaffen.

Dr. Bhuwnesh Agrawal Was könnte denn Ihrer Meinung nach dafür getan werden, dass bessere und innovative Technologien schneller bei den Patienten ankommen?

Prof. Klaus Pantel Genau diese Überlegung hat uns dazu veranlasst, die European Liquid Biopsy Society (ELBS) zu gründen. Wir wollen damit eine kritische Masse bilden, um diese neue Diagnostik der Liquid Biopsy wirklich voranzubringen. Den Begriff Liquid Biopsy habe ich 2010 zusammen mit meiner Kollegin Catherine Alix-Panabieres aus Montpellier ins Leben gerufen; er umfasst die Analyse von Tumorzellen und deren Bestandteilen wie zum Beispiel zirkulierende Tumor-DNA im Blut und anderen Körperflüssigkeiten. Mit der ELBS wollen wir die Lücke zwischen den fantastischen Publikationen und dem Nirwana schließen, in dem diese dann landen. Das Beispiel Lungenkarzinom hat uns gezeigt, dass das gut laufen kann.

Dr. Barbara Behrens Herr Professor Gebhardt, in welchen anderen Bereichen der Krebsmedizin hat es in den vergangenen Jahren Fortschritte gegeben?

Prof. Christoffer Gebhardt Auch im Bereich des Melanoms ist enorm viel passiert. Wir kommen aus einem besonders dunklen Zeitalter der Therapiesituation für Hautkrebspatienten, denn bis ins Jahr 2011 hatten wir keine lebensverlängernde Therapieoption für Patienten im metastasierten Stadium zur Verfügung. Heute haben wir starke Therapien. Einerseits die Immuncheckpoint-Inhibitoren, die beim Melanom entwickelt wurden und dann einen Siegeszug durch die gesamte Krebsmedizin vollführt haben. Und auf der anderen Seite die hochwirksamen BRAF-/MEK-Inhibitoren als zielgerichtete Therapeutika. Diese beiden Therapiesäulen konnten das mediane Gesamtüberleben in der Stadium IV Situation von sieben bis neun Monaten median auf mittlerweile drei bis über fünf Jahre heben. Wir gehen zudem davon aus, dass wir etwa 30 bis 40 Prozent der Patienten mittlerweile sogar heilen können. Das ist ein revolutionärer Therapieerfolg!

 

Es kommen derzeit zu wenige Innovationen wirklich beim Patienten an

PROF. KLAUS PANTEL

Dr. Bhuwnesh Agrawal Das klingt in der Tat beeindruckend. Ist das Potenzial damit ausgeschöpft?

Prof. Christoffer Gebhardt Nein, im Gegenteil. Ich glaube, dass wir sozusagen die Pferdestärken derzeit nur zu Teilen auf die Straße bringen. Die molekulare Diagnostik ist der Schlüssel für personalisierte Medizin. Wir haben jetzt gerade Zulassungen für diese erfolgreichen Therapien auch für frühere Stadien bekommen, also Situationen ohne Metastasierung. Nun stehen wir vor der Aufgabe, die Patienten selektieren zu müssen, die von den hochwirksamen Therapien auch wirklich profitieren werden. Der Schlüssel für all diese Fragestellungen liegt in der molekularen Diagnostik, und insbesondere beim Therapiemonitoring sehe ich hierbei die Lösung in der Liquid Biopsy. Ich schätze, dass wir damit die Heilungsrate unserer Patienten noch um mindestens 15 bis 20 Prozent verbessern können. An der Stelle ist die ELBS ganz wichtig als Leuchtturmorganisation. Ein Verbund, der tatsächlich einen derartigen Fortschritt auch international schaffen kann und Leitlinien verändert. Nur so kann es gehen.

Dr. Barbara Behrens Welche Rolle spielen dabei die Krankenkassen, oder zugespitzt gefragt: Könnten mehr Patienten eine bessere Therapie bekommen, wenn mehr erstattet werden würde?

Prof. Christoffer Gebhardt Ja, absolut. Wir verschenken Potenzial, weil wir nicht wissen, welcher Patient idealerweise von der einen, aber nicht von der anderen Therapie profitiert. Dazu fehlen uns die molekularen Analysen in der Routineanwendung.

Dr. Bhuwnesh Agrawal Herr Professor Pantel, wie kann Liquid-Biopsy-Analytik hier unterstützen?

Prof. Klaus Pantel Also zunächst sehe ich den Vorteil von Liquid Biopsy bei der Analyse von Patienten mit fortgeschrittenen Tumorerkrankungen. Hier kann das Blut für eine Mutationsanalyse der zirkulierenden Tumor-DNA (ctDNA) genommen werden, um die Entscheidung für oder gegen eine zielgerichtete Therapie zu treffen (CDx). Das ist auch der größte gemeinsame Nenner der vielen existierenden Guidelines wie ASCO, ESMO, NCCN, die ja immer eher konservativ ausgelegt sind. Die nächste Anwendung, bei der sich die Liquid-Biopsy-Analytik durchsetzen wird, ist Minimal Residual Disease (MRD), also im Blut verbleibende ctDNA als Zeichen eines verbliebenen Tumors zu entdecken. Denn wenn kein restlicher Tumor mehr da ist, dann sind die Patienten ja prinzipiell auch nicht mehr krank und müssen nicht mehr therapiert werden. Bevor das in die Routine kommt, muss MRD klar definiert werden. Welche analytische Sensitivität ist notwendig? Hier gibt es Aussagen von weniger als 0,01 bis mehr als ein Prozent Anteil an ctDNA im Blut. Genauso zeigen viele Studien, dass ein Blutsignal für ein Rezidiv viele Monate früher entdeckt wird, bevor es der Radiologe in der Bildgebung sehen kann. Aber die Frage ist doch: Ab wann muss die Therapie und vor allem wie verändert werden? Wir brauchen zum einen Studien, die genau hierauf Antworten geben, und zum anderen eine Harmonisierung der Assays und Proficiency Tests.

Prof. Christoffer Gebhardt Auch darf nicht vergessen werden, dass wir Patienten behandeln, die nicht nur an den Symptomen der Erkrankung leiden, sondern zusätzlich psychisch belastet sind: mit dem Wissen, Krebs zu haben mit einem hohen Risiko, dass die Erkrankung wiederkommt, voranschreitet oder man verstirbt. Das ist ein Stressfaktor für die Patienten, der die Lebensqualität stark beeinträchtigt. Gerade hier kann eine auf Liquid Biopsy basierende MRD-Diagnostik ein Schlüssel sein, um Patienten zusätzliche Gewissheit zu geben, dass die Erkrankung aktuell selbst mit den sensitivsten Methoden nicht nachweisbar und daher eine Heilung wahrscheinlich ist.

Dr. Barbara Behrens Und wie vielversprechend ist Liquid Biopsy als diagnostische Methode der Zukunft?

Prof. Christoffer Gebhardt Das ist wahrscheinlich eine der wichtigsten Technologien im Verbund mit dem Innovationsmotor der „neuen Therapien“. Die pharmazeutische Entwicklung ist rasant. Für das Melanom als Modelltumor gibt es viele immunonkologische Therapien und weitere werden neu entwickelt. Wir haben mittlerweile die Kombinationen der zielgerichteten mit der Immuntherapie, die Vakzinierung und auch die zellulären Therapien. Da wächst der Bedarf an molekularer Diagnostik und an Liquid Biopsy. Es ist wahrscheinlich eines der wichtigsten Themen für die Onkologie.

Wir verschenken Potenzial, weil wir nicht wissen, welcher Patient idealerweise von der einen, aber nicht von der anderen Therapie profitiert. Es fehlen die molekularen Analysen in der Routineanwendung

PROF. CHRISTOFFER GEBHARDT

Dr. Bhuwnesh Agrawal Werden Krebspatienten in Zukunft nach ihrer Entität oder nach molekularen Kriterien behandelt?

Prof. Klaus Pantel Das ist ja das Schöne an der Liquid-Biopsy-Diagnostik, dass sie die verschiedensten Tumorentitäten umfasst. Es gibt gemeinsame Fragestellungen und tumorspezifische Fragestellungen. Eine gemeinsame Fragestellung ist die Detektion von Minimal Residual Disease, wobei der MRD Load, der notwendig ist für eine Therapieumstellung, durchaus tumorspezifisch sein kann. Eine andere ist die Harmonisierung von Technologien.

Prof. Christoffer Gebhardt Die Reise von modernen Behandlungsmethoden gegen Krebserkrankungen, zum Beispiel Immuntherapeutika und zielgerichteten Therapien, wird in Richtung entitätsunabhängige Zulassung gehen und in Richtung molekulare Marker. Hier wird noch deutlicher, dass wir die entsprechende Diagnostik in der Routine brauchen. Ich bin allerdings fest überzeugt, dass wir neben Liquid-Biopsy-Analysen auch weiterhin das Wissen um das Ursprungsgewebe benötigen, um dessen Tumorbiologie und Tumorimmunologie. Dies hat auch einen relevanten Einfluss auf den Verlauf der Erkrankung, auf das Metastasierungsverhalten und das Therapieansprechen.

Dr. Bhuwnesh Agrawal Um noch mal die Frage nach der Vergütung aufzugreifen – was ist hier die Zukunft der molekularen Diagnostik?

Prof. Klaus Pantel Aus meiner Sicht muss es für die Technologieentwicklungen im Diagnostikbereich klare Roadmaps geben. Zusätzlich muss man sozioökonomische Berechnungen durchführen und den Mut aufbringen, Einsparmöglichkeiten auch zu benennen, zum Beispiel Reduzierung der Anzahl von CT-Scans oder Deeskalation von Therapien. Es ist nicht einfach, solche Studien finanziert zu bekommen; hier sind öffentliche Geldgeber sicherlich primär gefragt und Patientenvertreter sollten zunehmend mit ins Boot genommen werden.

Prof. Christoffer Gebhardt Also wenn ich mal träumen darf, wünsche ich mir einen Zulassungspfad für moderne Diagnostika, angelehnt an den AMNOG-Prozess. Der ist für Arzneimittel in Deutschland der Garant dafür, dass es zumindest im Bereich der onkologischen Therapien möglich ist, die Innovation auch umgehend an die Patienten bringen zu können. Nach Zulassung der EMA wird der AMNOG-Prozess gestartet und die Medikamente stehen uns in der Regel sofort zur Verfügung und sind auch sofort erstattungsfähig. Binnen des ersten Jahres findet dann eine entsprechende Bewertung statt und der Zusatznutzen wird kritisch beurteilt. Wenn Ähnliches auch für diagnostische Verfahren wie die Liquid-Biopsy-Analytik möglich wäre, hätten wir quasi eine Roadmap, mit der sich die Hersteller und Entwickler von Diagnostika auf die Forderungen der entsprechenden Zulassungen einstellen können.

Dr. Barbara Behrens Es wird spannend, diese Entwicklung zu beobachten. Aber zum Abschluss vielleicht die wichtigste Frage: Werden wir den Krebs in fünf bis zehn Jahren besiegt haben?

Prof. Klaus Pantel Krebs gibt es schon seit ewigen Zeiten und er wird noch über lange Zeit ein weltweites Problem darstellen, mit vielen Millionen Toten. Allein auf dem Gebiet der Europäischen Union sterben daran rund 1,3 Millionen Menschen pro Jahr. Es muss also zunächst noch viel mehr effektivere Therapien geben und, wie es auch Professor Gebhardt schon gefordert hat, keine klinischen Studien mehr ohne Biomarker, um eine bessere Personalisierung der Behandlung zu gewährleisten. Über die Biomarker-Klassifizierung ist zu erkennen, welche Patientensubgruppe von den Therapien am meisten profitieren kann, und das sollte in der Zulassung des Medikaments berücksichtigt werden. Ich sehe hierfür auch in der Pharmaindustrie großes Interesse an Liquid Biopsy. Aber dass wir Krebs überall heilen können, befürchte ich, wird eine Illusion bleiben.

Prof. Christoffer Gebhardt Ich bin sehr optimistisch. Wir stehen kurz vor dem nächsten Quantensprung im Bereich der Vakzinierungstherapien und zellulären Therapien. Den größten Nutzen, auch für die Patienten insgesamt in der Onkologie, sehe ich ganz klar im Bereich der modernen molekularen Diagnostik. Ich denke, wir werden in zehn Jahren eine echte personalisierte Medizin zur Verfügung haben. Es wird jeder einzelne Patient umfassend durch molekulare Diagnostik, und zwar genomisch, proteomisch, epigenomisch und immunologisch gescreent werden – gewebe- und blutbasiert –, bevor überhaupt Therapieentscheidungen getroffen werden. Wir werden zwar immer noch nicht jeden Patienten heilen können, aber viele, viele mehr als jetzt.

 

Summary

  • Trotz großer Fortschritte in der Krebsmedizin und hochinteressanter Veröffentlichungen kommt zu wenig davon bei Patientinnen und Patienten an
  • Liquid Biopsy ist eine der vielversprechendsten Technologien in der Krebsmedizin und hat das Potenzial, die Krebstherapie noch deutlich stärker zu personalisieren, um die Heilungschancen und Lebensqualität deutlich zu verbessern

 

Fotoquelle: Lisa Notzke

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