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Fledermaus Skills auf Rezept?

XTRA-ARTIKEL AUSGABE 1/2023

Michael Hiller, Professor für vergleichende Genomik, erforscht die Geheimnisse der Superimmunität von Fledermäusen und hofft auf Chancen für die Humanmedizin

Text Verena Fischer

Pünktlich zur Dämmerung vor dem Eingang der riesigen Tropfsteinhöhlen im guatemaltekischen Lanquin. Kaum ist die Sonne untergegangen, beginnt die Luft zu rascheln und Millionen kleiner Flügel bahnen sich ihren Weg aus der Unterwelt heraus in die drückend warme Sommernacht. Dann taucht ein Kescher in das Flügelmeer und fischt eine Fledermaus aus dem Schwarm. Innerhalb weniger Sekunden wird mit professionellen Handgriffen eine Zellprobe entnommen und kurz darauf die Fledermaus zurück in die Finsternis entlassen. „Für die Sequenzierung benötigen wir frisches Zellmaterial, das sofort eingefroren wird“, erklärt Prof. Hiller, der zusammen mit seinem Forschungsteam vom Senckenberg Institut zum BAT1K-Konsortium gehört – einem internationalen Forschungszusammenschluss, dessen Ziel es ist, die DNA möglichst aller weltweit lebenden Fledermäuse zu entschlüsseln. Eine Mammutaufgabe, wenn man bedenkt, dass bisher mehr als 1.400 verschiedene Arten bekannt sind, die zum Teil an den abgelegensten Orten der Welt leben. „In Krisengebieten kann es für unsere Kollegen tatsächlich nahezu unmöglich sein, Feldforschung zu betreiben“, bestätigt der Professor für Genomik. Klar ist: Der Einsatz lohnt sich. Bereits vor zwei Jahren konnten die Forschenden erstmals sechs sehr vollständig entschlüsselte Fledermausgenome veröffentlichen und daraus faszinierende Erkenntnisse ableiten. „Fledermäuse sind deshalb so interessant, weil sie eine ganze Reihe außergewöhnlicher Merkmale besitzen“, schwärmt der Forscher und zählt auf: Kein anderes Säugetier hat über das „Wingsuit-Gleiten“ (Beispiel: Gleithörnchen) hinaus eine echte Flugfähigkeit entwickeln können. Auch die Echoortung ist eine Seltenheit, die Fledermäuse bis zur Perfektion beherrschen: Sie können damit sogar in den dunkelsten Höhlen winzige Insekten problemlos ausmachen und klassifizieren. Besonders interessant für die Humanmedizin sind aber folgende Fledermaus-Skills: die Fähigkeit, mit verschiedenen Viren zusammenzuleben, ohne krank zu werden, die Abwesenheit chronischer Leiden wie Krebs sowie eine extrem hohe Lebensspanne.

Allesfresser bis Frutarier

Unter den Fledermäusen gibt es kaum ein Ernährungskonzept, das es nicht gibt. Drei Beispiele:

Achtung bissig

Brasilianische Vampirfledermäuse sind die einzigen Säugetiere, die sich ausschließlich von Blut ernähren. Gut zu wissen: Mehr als 20 Milliliter zapfen die Tiere ihrer Beute nicht ab

Blutzuckerrekord

Es gibt Fledermausarten, die ausschließlich Früchte essen. Warum sie trotzdem kein Diabetes bekommen? Diese Forschungsfrage versucht das BAT1K-Konsortium zu klären

Konkurrenz für Bienen

Blütenfledermäuse leben vor allem im Regenwald und ernähren sich ausschließlich von Nektar. Dadurch spielen sie eine wichtige Rolle für die Bestäubung

Gesund dank Toleranz

Infiziert sich ein Mensch mit Viren, folgen häufig heftige Immunreaktionen, die Fieber, diverse Organentzündungen oder sogar Sepsis auslösen können. Im Vergleich dazu haben Fledermäuse offenbar einen Weg gefunden, gelassen mit Erregern umzugehen. „Fledermäuse zeichnen sich durch eine hohe Virustoleranz aus“, bestätigt der Forscher. „Sie leben mit verschiedenen Coronaarten, inklusive der nächsten Verwandten von SARS-CoV-2, sowie Ebola-, Tollwut- oder auch Marburgviren zusammen, ohne dabei krank zu werden.“ Ihr Immunsystem ist scheinbar in der Lage, Viren zu kontrollieren, ohne dem eigenen Organismus zu schaden. Aber wie machen sie das? Was die Gene verraten: „Wir haben eine Reihe von Mutationen in Genen festgestellt, die den Immun-Pathway steuern, der Entzündungsreaktionen in Gang setzt“, berichtet Hiller. Es werden dadurch Proteine, die Entzündungen verursachen und verstärken, verändert oder nicht mehr hergestellt. „Das könnte zum Teil erklären, weshalb Fledermäuse mit Viren zusammenleben, ohne dass ihr Immunsystem überreagiert“, schlussfolgert er und ergänzt, dass die Änderungen sowohl das spezifische als auch das adaptive Immunsystem betreffen. Wie sich die Virentoleranz evolutionär entwickelt hat, darüber gibt es verschiedene Theorien: „Die Superimmunität scheint etwas mit der Evolution der Flugfähigkeit zu tun zu haben.“ Denn Flugfähigkeit kostet viel Kraft, weshalb Lebewesen beim Abheben große Mengen freier Radikale freisetzen. Sauerstoffradikale sind dafür bekannt, alle möglichen Zellstrukturen zu beschädigen und Entzündungsreaktionen auszulösen. Es sei daher logisch, dass Fledermäuse im Lauf ihrer Evolution bessere Schutzmechanismen im Umgang mit diesen entwickeln mussten und gelernt haben, Entzündungsreaktionen zu kontrollieren.

Forever Young

Es gibt 19 Säugetierarten, die proportional zum Körpergewicht länger leben als der Mensch, 18 davon sind Fledermäuse; außerdem hat noch der Nacktmull die Nase vorn. Obwohl Fledermäuse eigentlich sehr klein sind (sie wiegen zwischen zehn und 20 Gramm), werden sie bis zu 41 Jahre alt (aktueller Rekord). Das ist etwa zehnmal so alt, wie man es von Säugetieren ihrer Größe erwarten würde. Zum Vergleich: Eine Maus lebt nur etwa drei Jahre. Was Altersforscher endgültig neugierig macht, ist die Tatsache, dass Fledermäuse nicht nur eine hohe Life-, sondern auch eine besonders hohe Healthspan haben. Das bedeutet, es sind keine Alterserkrankungen bekannt, die das Leben der fliegenden Säuger verkürzen. Altern ist ein sehr komplexes Geschehen, das noch nicht vollständig verstanden ist, beginnt Hiller. Ein Aspekt, der eine Rolle spielt, sind die „Schutzkappen“ der Chromosomen, die Telomere, die mit dem Alter kürzer werden, sodass irgendwann im Zuge der Zellteilungen wichtige Chromosomenabschnitte verloren gehen. „Es gibt Studien, die zeigen, dass Fledermäuse ihre Telomere besser schützen können“, berichtet der Forscher. „Zusätzlich arbeiten DNA-Reparaturenzyme effizienter, was Fledermäuse vor Mutationen bewahrt.“ Vermutlich sei dies ein entscheidender Grund dafür, dass Krebsleiden bisher nur sehr selten bei Fledermäusen beobachtet wurden. „Außerdem spielen Entzündungsreaktionen bei der Tumorgenese sowie beim Altern eine Rolle“, ergänzt er. Dass Fledermäuse diese besser im Griff haben, könne ein weiterer Grund für ihre Langlebigkeit sein. Es sei gut möglich, dass die Flugfähigkeit evolutionär auch einen positiven Effekt auf das Lebensalter von Fledermäusen genommen hat. Hiller erklärt: „Flugfähigkeit bedeutet bei Säugetieren, dass Weibchen weniger Embryonen gleichzeitig bekommen können, da es unmöglich ist, mit einem riesigen Extragewicht im Bauch zu fliegen.“ Das Limit an Nachkommen ist also begrenzt, weshalb es im Umkehrschluss evolutionär sinnvoll sei, stattdessen länger gesund und fruchtbar zu bleiben.

Die Batman-Pille

„Wir wollen die genomischen Grundlagen der Fledermausfähigkeiten verstehen und einige davon auch beim Menschen zur Anwendung bringen.“ Als Allererstes müssen dafür relevante Veränderungen von Signalwegen erkannt werden. Dann braucht es vergleichende Genomik innerhalb der Arten und gegenüber anderen Säugetieren, um herauszufinden, welche Änderungen fledermausspezifisch sind. Hat man solche Kandidaten gefunden, gehe es darum, deren Funktion mithilfe von Experimenten in Zelllinien oder in Mäusen zu belegen. „Man kann pluripotente Fledermausstammzellen herstellen und die dann in sämtliche Zelltypen differenzieren“, erklärt der Forscher. Zuletzt müsste man dann überlegen, ob es pharmakologische Möglichkeiten gibt, um die gewünschten Veränderungen im Fledermausgenom auf den Menschen zu übertragen. Ähnliche Effekte würden in anderen Zusammenhängen beispielsweise schon mit Antikörpern oder Reagenzien erreicht, die Gene inhibieren oder aktivieren. „Es ist möglich, Signalwege zu beeinflussen“, schließt Hiller und lenkt ein: „Die Entwicklung von Medikamenten gehört zu unseren Visionen, ist aber ein langer Weg.“ Die Grundlagenforschung sei aber immer auch Selbstzweck: „Die Früchte werden oft nach langer Zeit geerntet, und häufig sind es ganz andere als geplant. Denken Sie etwa an die Teflon-Pfanne. Die gibt es nur, weil die NASA ein Hitzeschutzschild entwickeln wollte. Auch die CRISPR-Cas9-Genschere ist ein Zufallsfund aus der Grundlagenerforschung bakterieller Immunsysteme.“ Vielleicht werden wir dank der Fledermausforschung also eines Tages wirklich länger und gesünder leben können. Oder sogar – doch das bleibt wohl Wunschvorstellung – auch ohne die NASA vom Erdboden abheben können.

Summary

  • Fledermäuse zeichnen sich durch hohe Virentoleranz, Langlebigkeit und Gesundheit bis ins hohe Alter aus
  • Michael Hiller hofft, veränderte Signalwege zu entschlüsseln und diese für die Humanmedizin nutzbar zu machen
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