Auf dem Weg zur Präzisionsmedizin
XTRA-ARTIKEL AUSGABE 1/2025
Prof. Sebastian Stintzing, Direktor der Medizinischen Klinik für Hämatologie, Onkologie und Tumorimmunologie der Charité Mitte, über die Bedeutung der molekularen Diagnostik für die Wahl der optimalen Therapie
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Interview Dr. Barbara Behrens
Welche Rolle spielt die Charité in der Tumormedizin heute?
Das Comprehensive Cancer Center (CCCC) zählt zu den führenden Krebszentren der Welt. Jährlich werden hier über 100.000 Patienten behandelt, mehr als 1.100 Tumorkonferenzen organisiert und man ist an über 300 klinischen Studien beteiligt.
Wie hat sich die Krebsmedizin in den letzten Jahren entwickelt?
Die Krebsmedizin entwickelt sich vor allem in zwei Bereichen: in der Präzisionsonkologie und der Immuntherapie, die die Behandlung vieler Tumoren revolutioniert haben. In der Präzisionsonkologie steht die Identifikation genetischer Alterationen im Fokus. Diese Veränderungen im Erbgut von Tumorzellen oder deren Vorläuferzellen spielen eine zentrale Rolle bei der Entstehung von Krebs, da sie grundlegende zelluläre Prozesse beeinflussen, die das Gleichgewicht zwischen Zellwachstum, -teilung und -tod regulieren. Neben Diagnose und Allgemeinzustand der Patienten sind diese molekularen Tumoreigenschaften entscheidend für die Therapie.
Wie hat sich das Überleben der Krebspatientinnen und -patienten durch die Präzisionsonkologie verändert?
In den vergangenen 20 Jahren sind in Deutschland mehr als 160 neue Medikamente gegen Krebs zugelassen worden, von denen weit über die Hälfte zielgerichtete Therapien waren. All diese Medikamente haben in klinischen Studien ihre lebensverlängernde Wirkung und Verträglichkeit unter Beweis stellen müssen. Zum Beispiel: Bevor wir die zielgerichtete Anti-EFGR-Therapie für das metastasierte kolorektale Karzinom hatten, lag das mittlere Überleben der Patienten bei 18-20 Monaten ab dem Zeitpunkt der Diagnose. Das hat sich in molekular definierten Subgruppen nun fast verdoppelt, auf bis zu 36 Monate.
Wie stehen Sie zur Liquid-Biopsy-Analytik?
Liquid Biopsy, also die Analyse von Tumor-DNA im Blut, bietet in einigen Fällen klare Vorteile gegenüber der gewebebasierten Analyse. Die Entnahme einer Blutprobe ist schnell, einfach, nicht invasiv und erfasst die Gesamtheit aller genetischen Veränderungen in Primärtumoren und Metastasen. Zusätzlich bietet sie die Möglichkeit, Untersuchungen über den Verlauf einer Therapie hinweg durchzuführen. Dies ist besonders wichtig, da sich unter einer Therapie die molekularen und klonalen Strukturen der Tumoren verändern können, was häufig zu Therapieresistenzen führt. Diese können durch Liquid Biopsy frühzeitig erkannt werden, sodass bei einigen Krebsarten bereits die Therapie entsprechend angepasst werden kann.
Dies wird heute routinemäßig schon bei Patientinnen mit lokal fortgeschrittenem oder metastasiertem Mammakarzinom durchgeführt. Durch den Nachweis einer ESR1-Mutation können sie das Krebsmedikament Elacestrant verabreicht bekommen.
In der Therapie von metastasiertem Darmkrebs zeigen erste retrospektive Daten, dass eine zusätzliche Liquid Biopsy die RAS-Wildtyp- und RAS-mutierte Population besser definieren kann als die alleinige Standarddiagnostik aus Gewebeproben. Dies ist für die Entscheidung der gerade schon genannten Anti-EGFR-Therapie wichtig.
Wie ist Ihre Zukunftsvision für die Behandlung von Krebs?
In den kommenden Jahren wird die Krebsbehandlung erhebliche Fortschritte machen. Viele Tumorerkrankungen werden weiterhin nicht heilbar sein, aber als chronische Krankheiten behandelbar werden. Der Fokus für die Bestimmung von Prognose und Therapie wird sich vom Ursprung des Tumors zukünftig zu molekularen Subgruppen verlagern. Die molekulare Diagnostik wird also weiter an Gewicht und Bedeutung gewinnen. Patienten werden zunehmend in spezialisierten Zentren beraten, während die Behandlung wohnortnah erfolgt. Die Teilnahme an klinischen Studien bleibt entscheidend, um Fortschritte in der Onkologie zu fördern.
PROF. SEBASTIAN STINTZING leitet seit 2019 die Medizinische Klinik für Hämatologie, Onkologie und Tumorimmunologie der Charité Mitte. Sein Schwerpunkt liegt auf dem kolorektalen Karzinom und der personalisierten Medizin. Ziel seiner Arbeit ist es, Therapien maßzuschneidern, um die Behandlung von Patientinnen und Patienten zu verbessern.