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Alter Affe Angst

XTRA-ARTIKEL AUSGABE 2/2020

Corona pflügt die Gesellschaft und das Denken um. Die Bedeutung der Angst erscheint dabei in einem neuen Licht

Text Stephan Wilk

 

Wie reagieren Sie, wenn Ihnen gesagt wird, dass das Leben eine einzige Katastrophe und sein Ziel nicht ist, glücklich zu sein? Was auf den ersten Blick nicht wie ein Selbsthilfebuch anmutet, entspricht bei genauerer Betrachtung exakt dem Zweck. Der Gedanke stammt von einem der gegenwärtig populärsten Intellektuellen, dem kanadischen Psychologen Jordan Peterson. Millionen verfolgen seine Auftritte auf YouTube. Die vermittelten Botschaften beruhen auf zwölf Regeln, die dem Leben Sinn geben und es angstfreier machen sollen. Für Psychologen ist Glück eine Gemütsverfassung, die durch das häufige Auftreten positiver und das seltenere Auftreten negativer Emotionen gekennzeichnet ist.

Demnach wäre die Formel für mehr Glück im Grunde simpel: mehr Spaß und Freude, weniger Angst, schließlich ist Freude gut und Angst schlecht. Ist es wirklich so einfach? Vom Schriftsteller Erich Kästner haben wir gelernt, dass selbst der stärkste Mann der Welt mindestens einmal in seinem Leben unters Bett schaut. Und die große Denkerin Hannah Arendt behauptet sogar, dass Angst für das Überleben unverzichtbar sei.

Trotzdem hat Angst nach wie vor ein miserables Image. Wenn jemand öffentlich zugibt, Angst zu haben, gilt er als Schwächling. Doch man stelle sich eine Welt vor, in der alle vor nichts und niemandem Angst haben. Unsere Vorfahren hätten sich mutig in den Kampf mit einem wilden Bären gestürzt, statt zu fliehen. Evolutionär gesehen lässt sich bilanzieren: Ohne Angst hätte es die Menschheit wohl nie bis ins 21. Jahrhundert geschafft. Auch wenn in der heutigen Zeit existenzielle Bedrohungen nur noch selten in Gestalt von Raubtieren auftreten, muss sich niemand schämen, Angst zu haben. Ängste sind wichtig, sie helfen, Gefahren rechtzeitig zu erkennen, und sichern unser Überleben.

Wovor wir uns fürchten, ist individuell und trotzdem gibt es Häufigkeiten. So wurden in einer 2019 erhobenen Studie als größte Ängste der Deutschen Zuwanderung genannt und die Gefahr, die von überforderten Politikern ausgeht. Für USAmerikaner hingegen waren korrupte Politiker, die Gefahr verschmutzter Gewässer und die Verknappung von Trinkwasser die Angstthemen, die das Ranking anführten.

Die Zeitrechnung nach der Heimsuchung durch Corona kennt dagegen in seltener Übereinstimmung nur noch eine Angst: die vor dem SARS-CoV-2-Virus und seiner unheimlichen Macht, die Gesellschaft umzupflügen. Wenn man so will, verhilft Corona der Angst wieder zu ihrem Recht – niemand braucht sich zu schämen, wenn er vor der Infektion Angst hat. Im Gegenteil, die Angst begründet in vielen Ländern einen mächtigen, von Wissenschaft gestützten Common Sense, mit dem sich tief einschneidende Einschränkungen legitimieren lassen.

Zu viel Angst, zu wenig Angst? Wir wissen es nicht. Die Einschätzungen zittern wie Ähren im Sturm der laufenden Hiobsbotschaften. Die Ungewissheit hat inzwischen das gesamte Denken erfasst. Es wird eine Zeit dauern, bis man diese Erschütterungen wieder eingefangen hat in unser Koordinatensystem von etwas mehr oder etwas weniger Glück im Leben.

Illustration: Laura Junger

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