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Komplexität umarmen

XTRA-ARTIKEL AUSGABE 1/2022

Obwohl die Wissenschaft für die Lösung vieler gesellschaftlicher Probleme unverzichtbar ist, findet sie nicht immer ein aufgeschlossenes Publikum. Warum ist das so?

Text: Stephan Wilk

Der Nutzen von Impfungen oder die Anerkennung der Erderwärmung sind nicht die einzigen Beispiele, bei denen sich Forschende derzeit schwertun, ihre Erkenntnisse und Errungenschaften einem breiten Publikum zu vermitteln. Aber sie gehören vermutlich zu den wichtigsten: Schließlich würde es die effektive Eindämmung von COVID-19 erfordern, dass Menschen ohne lange gesellschaftliche Diskussionen Distanzregeln befolgen und sich impfen lassen. Auch der wissenschaftlich unstrittige Fakt, dass die menschengemachte Erwärmung unseres Planeten katastrophale Folgen für kommende Generation haben wird, scheint für die meisten keine ausreichende Motivation zu sein, ihre Lebensweise zu ändern.

Warum ist das so? Zum einen ist gute Wissenschaftskommunikation mehr als die reine Übersetzung des wissenschaftlichen Jargons in eine Sprache, die die Öffentlichkeit versteht. Das modische Diktum von der „Reduktion der Komplexität“ greift hier zu kurz. Vielmehr geht es um Vermittlung und „Ertragen von Komplexität“, wenn schon nicht um ihr „Umarmen“, wie es Niklas Luhmann, der Vater der Systemtheorie, gemeint haben mag, als er trocken anmerkte, Komplexität sei nur durch Komplexität zu reduzieren. Zu bewältigen sind schließlich eine enorme Anzahl von Elementen und Gesichtspunkten sowie ihre Vernetzung. Gelingen soll der Abgleich von Umweltfragen, von Risiko- und Nutzenabwägungen neuer Technologien oder von Gesundheits- und Sicherheitsaspekten im Umgang mit Lebensmitteln und Medikamenten.

Zum anderen hat Wissenschaftskommunikation mit einer Erwartungshaltung zu kämpfen, die nur eindeutige, möglichst abgeschlossene Antworten akzeptiert. Klar, nützlich und anwendbar. Wissenschaftliche Erkenntnisse sind jedoch meist nur Zwischenergebnisse und nur in bestimmten, eng abgesteckten Zusammenhängen oder Zielgruppen anwendbar. Schon Francis Bacon, der große Wegbereiter des Empirismus, hat mit dem Postulat von Beobachtung und Experiment zu einer unverfälschten, mit wissenschaftlicher Methodik gepaarten Sinneserfahrung aufgerufen und damit „abschließende“ Fragestellungen endgültig ausgeschlossen. Nüchtern bilanziert ist es nur logisch, dass es der Charakter von Wissenschaft und Forschung selbst ist, der sicherheitssuchendem Verhalten buchstäblich den festen Boden unter wackligen Füßen wegzieht.

Die schier unüberwindbare Hürde für die Wissenschaftskommunikation kommt allerdings von einer anderen Seite: der Schwierigkeit, die eigene Botschaft an Gruppen mit gegenteiligen Ansichten heranzutragen. Der Psychologe Dan Kahan von der Yale University hat in einer aufsehenerregenden Studie gezeigt, dass Bildung nicht davor schützt, Daten und Fakten zur Bestätigung der eigenen Vorurteile auszulegen. Seine Probanden interpretierten die raffinierten Zahlentabellen nur dann rational, wenn keine emotionale Beteiligung im Spiel war. Sobald das Thema politisch aufgeladen war, haben selbst Testpersonen mit dem höchsten Bildungsstand nur dann die komplexere Wahrheit aus den Daten gelesen, wenn sie in ihr Weltbild gepasst hat. Es ist in diesem Zusammenhang nicht ohne Ironie, dass der große Mathematiker und Philosoph Bertrand Russell ausgerechnet die augenscheinlich auf unstrittigen Zahlen basierte Mathematik als jene Wissenschaft definiert hat, in der wir das, worüber wir sprechen, niemals kennen – und niemals wissen, ob das, was wir sagen, wahr ist.

Illustration: Katrin Rodegast

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